Auf ein Neues

Okay, ich finde Jahreswechsel ja nie so sensationell. Deshalb habe ich mich gestern auch um 22:30 Uhr ins Bett gelegt, ein Hörbuch gehört und den Engländer samt Akiro, die eigentlich zwecks Silvestergemeinsamverbringung hier waren, im Wohnzimmer sitzen lassen. Ich war müde und wollte das Feuerwerk möglichst verschlafen. Das ging natürlich nicht, weil der einzige Böllerfan der Nachbarschaft ausgerechnet in direkter Hör- und Sichtachse meines Fensters eine Feuerwerksbatterie nach der anderen abfeuerte. Aber gegen 0:30 Uhr war es gut und ich schnell im Land der Träume.

Heute konnten wir dann frisch und unverkatert, weil Gras sowas halt nicht verursacht, vormittags eine schöne Hunderunde laufen und dabei bewundern, wie mies es manchen Anderen wohl ging, wie wenig insgesamt geböllert worden war und wie viele der geretteten Lebensmittel des Engländers und einer lieben Nachbarin offensichtlich gestern zur Feier des Tages verputzt und somit verwertet wurden. Die Nachbarin hat das Containern deluxe erfunden und verfrachtet die weggeworfenen Lebensmittel aus einem auch mir wohlvertrauten Supermarkt direkt aus dem Kühlhaus in ihren Vorgarten, wo dann inzwischen halb Aachen sich reichlich bedient. Arzu freute sich dann auch über Jakobsmuscheln mit Käsesauce zum Abendessen und auch wir Menschen mampften uns gestern und heute gut satt. Ich sage nur Schwarzbrot mit Räucherlachs und megafettiger Kräuterkäsecreme als Neujahrsfrühstück – Freeganismus machts möglich 🙂

Des Weiteren neu ist der Laptop, auf dem ich diese Zeilen schreibe: Ein aufgearbeitetes, gebrauchtes Businessgerät, vom Feinsten und mit einer so angenehmen Tastatur, auf der ich plötzlich nicht mehr jeden dritten Buchstaben verliere und somit endlich wieder flüssig tippen kann – ich danke sehr sehr doll meinem Vater, der das Rechnerchen nicht nur aufgetan sondern auch bezahlt und mir zu Weihnachten geschenkt hat, obwohl wir uns ja nichts schenken. Weihnachten, also Heiligabend, war toll, meine Schwester war da und beim obligatorischen Scrabble (ich habe eine Version mit Braillebuchstaben drauf und einem Spielbrett, wo die Steine eingeklickt werden und nicht verrutschen, wenn ich sie abtaste) hat völlig gegen jede Tradition mein Vater gewonnen, meine Schwester den zweiten Platz gemacht und meine Mutter und mich auf die letzten Plätze verwiesen. Sonst gewinnt fast immer eine von uns Letzteren. Lecker Essen gabs auch, meine Mutter ist für sowas immer gut und natürlich danke ich auch ihr.

Mit dem neuen Laptop sitze ich jetzt auch an einem neuen Platz. Er stand schon seit einigen Tagen gegenüber vom alten Laptop auf dem Esstisch, weil ich ja mit Einrichten und Datentransfär beschäftigt war. Jetzt, wo alles fertig ist und ich es sogar geschafft habe, heldinnenhaft meine ganzen e-Mails und Einstellungen einfach rüberzukopieren, stehen beide Laptops noch immer einander gegenüber, nur ich habe die Seite gewechselt. Genauso habe ich vor Kurzem meinen Platz am Couchtisch vom Sessel mitten im Wohnzimmer gegen den Sofaplatz neben Arzu und mit dem Rücken zur Wand eingetauscht. Zum Musik hören ist der Platz scheißé weil zwischen den Boxen, aber Musik höre ich eh fast nie, wenn ich alleine bin, was ich meistens den erstrebenswertesten Zustand finde.

Und sogar Vorsätze habe ich für das neue Jahr gefasst – unkonkret genug, um sie auch schaffen zu können. Neben der allgemeinen Hoffnung, dass 2023 die Covid-Pandemie nun wirklich in die Endemie überleitet (Ende-mie!) und vielleicht ein paar Kriege und Gewaltherde sich beruhigen mögen, vielleicht auch nur, indem Despoten heftig genug auf den Deckel kriegen, gibt es einen ganz konkreten, persönlichen Plan. Nachdem ich nun weiß, dass meine Lebenseinstellung „depressiver Realismus“ heißt und sich als Rebellion gegen den toxischen Positivismus feiern lässt, und nachdem ich außerdem ein wunderbares, vierstündiges Telefonat mit einer viel zu lange vernachlässigten, unbeugsam optimistischen obwohl vom Leben mehr als gebeutelten Freundin hatte, möchte ich mich nicht mehr so fatalistisch in mein Schicksal ergeben, wie ich es in den letzten Monaten getan habe. Ich war gefühlstot und dem Empfinden nach nur noch mit der Abwicklung meines eigenen Daseins und der Welt insgesamt beschäftigt. Aber da ich ja voraussichtlich doch noch ein paar Jahre auf diesem Planeten durchhalten muss, will ich es jetzt wieder positiver angehen. Das heißt, ich will Menschen treffen, offen für Erlebnisse sein, einfach mal schauen, was so kommt.

Damit ich das kann und der Nebel, unter dem ich seit Monaten stecke, sich endlich wieder lichtet, will ich mein Antidepressivum loswerden. Natalie Grams und ihr Podcast über richtig gute, evidenzbasierte Medizin brachten mich darauf. Darin erklärt ihr Interviewpartner, dass Antidepressiva in Studien eine erstaunlich geringe Wirksamkeit zeigten – nur knapp besser als Placebo – dafür aber mit einigen durchaus heftigen und lästigen Nebenwirkungen glänzten. Neben dem Libidoverlust, der mich als Single nun gerade weniger stört, nannte er auch die allgemein stark gedämpfte Gefühlswelt und eine deutliche Zunahme suizidaler Gedanken. Das kann ich alles bestätigen und es nervt und beeinträchtigt durchaus. Ich glaube, Vieles hat sich im Laufe des vergangenen Jahres so entwickelt, dass ich genug Ruhe habe, mich ausreichend entspannen und vor allem gegen nervigen Scheiß gut abgrenzen zu können. Die dämpfende Wirkung, die anfänglich half, ist inzwischen eher störend. Ich möchte es ohne das Zeug versuchen, auch auf die Gefahr hin, dass ich dann wieder die sieben Kilo abnehme, über die ich mich eigentlich so gefreut hatte.

Meine Neurologin hat dazu das letzte Wort, aber da das Medikament eh nicht ihre Idee war sondern auf dem Mist der Psychotherapeutin wuchs, die mich kurz darauf dann ergebnislos aus der Therapie entließ, sehe ich da kein Problem. Für mich waren Antidepressiva eigentlich eh immer nur als therapiebegleitende und -ermöglichende Maßnahme plausibel, was auch der Podcast bestätigt. Also weg mit dem Zeug, sobald die Neurologin mir erklärt hat, wie ich das mit dem Ausschleichen in diesem Fall am besten mache.

Ich hoffe, auch Ihr seid gut in dieses noch junge Jahr gestartet und könnt auf einer ähnlich aufstrebenden und hoffnungsvollen Welle schwimmen, wie sie mich so unverhofft erwischt hat. Die Welt geht nicht unter, nur die Menschen tun das. Und sie tun es nicht so schnell, dass nicht noch ein paar gute Jahre drin wären. Wir haben die Macht, diese Restlaufzeit auszudehnen, wenn wir uns nachhaltig und vernünftig verhalten. Mehr geht nicht, aber vielleicht reicht das auch.

16 Gedanken zu “Auf ein Neues

  1. Myriade sagt:

    Ich überlege gerade wie Bilder der Kunstrichtung „depressiver Realismus“ aussehen würden. Eine sehr interessante Frage. Ansonsten wünsche ich dir einen positiven Einstieg ins 2023e-Jahr

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  2. kommunikatz sagt:

    Ganz aktuell ist auch ein kritischer Vortrag zum Thema Antidepressiva online erschienen, in dem Studien und Argumente noch ausführlicher aufgerollt werden, gleicher Referent wie im erwähntenPodcast:

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  3. puzzleblume sagt:

    Über diese Langzeit-Nebenwirkungen von Antidepressiva wusste ich bisher nichts, aber es leuchtet mir ein, dass man die Einnahme immer wieder hinterfragen muss. Mein Vater war jahrzehntelang von Tranxilium und Librium abhängig, weil man in den 70er Jahren anscheinend eher lässig mit solchen Problemlösungen umgegangen ist und die Nebenwirkungen dem allgemeinen „unauffälligen Funktionieren“ untergeordnet hat, und der Hausarzt sozusagen mit meinem Vater alt wurde. Da gab es offenbar keine (Selbst-)Kritik und man hat einfach immer die Rezepte neu ausgestellt. Einen anderen Arzt zu befragen ist mit Sicherheit immer eine gute Massnahme.

    Hier wurde übrigens mehr herumgeböllert, und nachdem das Wendland nicht gerade eine wohlhabende Region ist, muss man sich schon fragen, wie die Leute so viel Geld erübrigen können, wo doch alle jammern. Maxima ist seit dem 2. Weihnachtstag verschreckt, weil da zuerst die traditionelle Jagd des Dorfes und der umgebenden Dörfer herumknallte und dann gleich die ersten Probeböller die Tage bis Silvester begleiteten. In der Silversternacht schepperte es überall recht stumpfsinnig, nach dem Motto „Laut ist besser als schön“, und würde es nicht jeden Tag bis auf kurze Pausen in Strömen regnen, wären die letzten Liebhaber dessen vermutlich immer noch aktiv, aber so wurde Maxi heute im Laufe des Tages langsam wieder fröhlicher.

    Ich wünsche dir nach dem so zufriedenstellenden Beginn des neuen Jahres einen ebensolchen, guten und gesunden weiteren Verlauf von 2023!

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    1. kommunikatz sagt:

      Vielen Dank, die guten Wünsche gebe ich gern zurück, auch an die anderen Kommentierenden. Das mit dem Böllern bezog sich nur auf meine unmittelbare Umgebung. In der Innenstadt muss es schlimm gewesen sein, obwohl da sogar ein Verbot herrscht. Arzu ist der Radau zum Glück weitgehend egal und Akiro hört nichts mehr, der hat einfach geschlafen.
      Die alten Antidepressiva hatten zusätzlich zu allem Elend wirklich ein sehr hohes Abhängigkeitspotential. Das ist bei den Neueren wohl nicht mehr so, aber die geringe Wirkung und die ausgeprägten Nebenwirkungen bringen mich immer wieder ins Grübeln, ob das so wirklich Sinn hat. Am Anfang hatte ich ja große Hoffnungen und somit eine Wirkerwartung. Richtig deutlich habe ich aber nie etwas davon gemerkt, außer halt dem besseren Schlaf. Ich schaue mal, ob ich meine Hausärztin auch noch zu einem Statement dazu bewegen kann, die war bisher gar nicht in die Sache involviert. Dann hätte ich zwei Meinungen. Aber mein Wunsch, es jetzt nach über einem Jahr einfach mal ohne zu versuchen, ist stark und berechtigt genug, um den Versuch auch zu machen. Wenn ich merke, dass es mir dann schlechter geht, kann ich immer wieder mit der Einnahme beginnen. Das Ausschleichen wird auch kein Drama sein, da ich ja immer bei einer recht kleinen Dosis geblieben bin.
      liebe Grüße an Dich, Maxima und alle Mitlesenden 🙂

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  4. kommunikatz sagt:

    Bisher zeichnet sich das Jahr durch ein steigendes Frustlevel und zunehmende Genervtheit von allem Menschlichen aus. Bevor ich meinen Vorsatz umsetzen kann, muss wohl wirklich erst das Antidepressivum weg. Oder ich muss mich mit dem Umstand abfinden, dass ich Menschen einfach doof finde und mich konsequent von ihnen fernhalten.

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  5. kommunikatz sagt:

    Nun denn, weiter gehts: Ich war bei meiner Neurologin und sie hat sich meine Bedenken und mein Ansinnen angehört, es mal ohne das Antidepressivum zu versuchen. Um meine Gedanken dazu und die Gründe ausführlich zu besprechen, fehlte leider die Zeit, ich habe aber die Adressen von drei ausdrücklich empfohlenen Psychiater*innen mitgenommen, bei denen ich versuchen werde, einen Termin und vielleicht auch dauerhafte Begleitung zu bekommen. Dort werde ich dann mehr klären können, hoffe ich. Auch ohne das habe ich inzwischen allerdings auch weiter nachgedacht und festgestellt, dass mein Medikament das mildeste und am wenigsten mit den beschriebenen Nebenwirkungen assoziierte ist, das es zur Zeit gibt. Vielleicht sind meine Erwartungen an das antidepressivafreie Leben also wirklich maßlos überzogen und das Zeug ist gar nicht sschuld an meiner „Misere“. Vielleicht ist es doch ganz gut, dass es mich ein bisschen dämpft und abschirmt, zumal es das in der geringen Dosis, die ich nehme, ja eh nur rudimentär tut. Die negativen Nebenwirkungen können bei einer so geringen Dosis eigentlich kaum auftreten, vielleicht sind es also eher Auswirkungen meines psychischen Zustands und nicht der Medikation. Momentan bleibt also erstmal alles beim Alten, bis ich eine*n der Psychiater*innen dazu konsultiert habe. Innere Leere ist nervig und langweilig, aber ob ich den Antrieb und die Motivation zu Veränderungen mit oder ohne Antidepressivum finde, ist spekulativ und vermutlich auch eher zufällig bzw. abhängig von ganz anderen Faktoren. Wäre ja sonst auch zu einfach.

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  6. kommunikatz sagt:

    Inzwischen habe ich zwei Termine und einen Wartelistenplatz für einen Termin, alle drei empfohlenen Praxen haben relativ schnell auf meine e-Mail-Anfrage reagiert und ich bin sehr gespannt, ob die Psychiater*innen so nett, zugänglich und konstruktiv sind wie ihre Vorzimmerleute. Ein Termin ist schon Mitte März, der andere Anfang April, aber ich hatte mit noch längerem Warten gerechnet und bin daher recht froh und zufrieden.
    Aber das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen, bzw. doch, natürlich, aber ich will auf etwas Anderes hinaus, und zwar das Thema Menschen, Offenheit und Inspiration. Heute Nachmittag habe ich mich nach der Arbeit (Donnerstag ist Welthaustag) mit einem Bekannten getroffen, erst wurden wir im Welthaus noch aufgehalten und von drei lieben Menschen vom Eine Welt Forum zu Kaffee und Puffeln (Berliner im öcher Karneval) eingeladen, was schon recht nett war, und haben danach einen Spaziergang gemacht. Es ist unglaublich, wie gut es tut, einfach mal tzwei Stunden lang mit einem spannenden, vernünftigen und empathischen Menschen zu reden. Ich sollte sowas wirklich häufiger tun.

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