Schattig

So mag ich es. Keine pralle Sonne, keine Hitze, angenehm kühler Wind und fliegendes Laub überall. Der Herbst ist eine schöne, morbide Jahreszeit, in der das Wachstum der Pilze und späten Blüten und der Verfall von herabregnenden Blättern, Früchten und Nüssen sich zu einem Duft vermischen, der für mich viel mehr als das frische Grün des Frühlings das symbiotische Leben unseres angeschlagenen Ökosystems verkörpert. Alles lebt und vergeht, greift ineinander, verwertet sich gegenseitig und würde damit ewig weitermachen, wenn der Mensch nicht ständig darin herumpfuschen und so Vieles zerstören würde. Leider gibt das Wissen um Letzteres der melancholischen Fergänglichkeit des Herbstes eine sehr düstere und fatalistische Note, aber diese finde ich inzwischen in jeder Jahreszeit und jedem Abdruck, den meine Umwelt in meiner Wahrnehmung hinterlässt.

Wir haben die Ewigkeit kaputtgemacht, die Fähigkeit der Natur zur Selbstregeneration überstrapaziert und abgewürgt. Das ist unverzeihlich und mehr als schade, aber offenbar haben wir uns längst auf die eine oder andere Weise damit abgefunden. So schön der Herbst auch ist und so sehr wir unseren Weg in den Abgrund akzeptiert haben mögen, so traurig ist es zugleich, uns selbst und die Natur, wie wir sie kennen, auf einem so rapide absteigenden Ast zu wissen.

Anderes fügt sich nahtlos ein. Wie die feiernden Reichen auf der längst in Schieflage geratenen Titanic machen die Menschen einfach weiter, halten sich Augen und Ohren zu und singen laut „Lalala“. Die Pandemie ist noch so ein Beispiel. Es ist Herbst, da war auch früher schon Erkältungs- und Grippezeit, aber mental scheinen Alle noch mitten im Hochsommer zu stecken. Die Infektionszahlen sind vergleichsweise moderat, aber wir sind definitiv mitten in der Welle. Die Dunkelziffer dürfte immens sein, wie an dem Allzeithoch der Hospitalisierungen leicht ablesbar ist. Selbst Leute, die vor ein paar Tagen noch mit Fieber im Bett gelegen und nach eigener Aussage richtig gelitten haben, rennen heute wieder ohne Maske und Abstand in der Gegend rum. Sie selbst sind ja vermeintlich sicher, entweder durch die gerade frisch überstandene Infektion oder durch eine kürzliche Auffrischimpfung. Die Anderen sind egal, die sollen halt gucken, wo sie bleiben. Diese Rücksichtslosigkeit kotzt mich an. Mein Termin für den zweiten Booster und den Grippeschutz ist nächste Woche, dann fühle ich mich selbst vielleicht auch wieder etwas sicherer, aber ich passe doch trotzdem auf, auch um der Anderen Willen.

Inzwischen habe ich die FFP2-Maske wieder ständig in der Hosentasche und setze sie auf, sobald jemand den Raum betritt, in dem ich mich aufhalte. Ob die Anderen eine Maske tragen, kann ich nicht sehen, dass ich eine trage, sehen sie dann. Ich lasse auch den Engländer nicht mehr in mein Haus bzw. begegne ihm nur noch maskiert. Er passt nicht auf, ihm ist das alles scheinbar völlig egal, auch wenn er das Gegenteil behauptet. Also bin ich für ihn halt nur noch die Hundepension, wenn er Akiro mal hier parken will, ansonsten herrscht von meiner Seite Funkstille.

Zu Treffen gehe ich nicht, wenn ich weiß, dass dort nicht aufgepasst wird. Also gehe ich nicht zu Treffen, Punkt. Für mein eh schon ziemlich dürftiges Sozialleben ist das scheiße, einen Freundeskreis habe ich schon lange nicht mehr und die Gruppen, in denen ich mich engagiere, dürfen sich weitgehend ohne mich bespaßen. Eine Ausnahme ist der Welthausvorstand, das ist mein Job und der Kreis ist klein und vorsichtig genug. Der Vorstand des Aachener Friedenspreis e.V. trifft sich aus verschiedenen Gründen eh meist via Zoom und bei anderen ehrenamts- oder arbeitsbedingten Sitzungen ist das ebenso oder eine Online-Teilname ist zumindest möglich. Aber ich frage mich schon, ob mein Leben wirklich nur aus Arbeit und Sitzungen bestehen sollte.

Ich habe mich selbst zur Schattenperson gemacht. Ich bleibe im Schatten, schütze mich konsequent, weil ich durch Blindheit und MS meiner Meinung nach schon genug Probleme habe. Ich will kein Covid, schon gar kein Long-Covid-Risiko. Ich weiß, wie ätzend Fatigue ist, davon möchte ich keine Extraportion. Und auch, wenn die Impfung die Gefahr verkleinert, empfinde ich das nicht als Freibrief für Leichtsinn. Es geht um Wahrscheinlichkeiten und ein Restrisiko für schwere Verläufe und Langzeitfolgen bleibt auch mit dem besten Immunschutz. Und, nur zur Erinnerung, als schwer gilt ein Covid-Verlauf, wenn mensch ins Krankenhaus muss. Ein Monat mit Fieber und Matschbirne im Bett gilt noch nicht als schwerer Verlauf.

Bin ich paranoid? Übertreibe ich? Ich finde nicht. Wenn die Welt mit meinem Selbstschutz nicht klarkommt, muss sie eben draußen bleiben. Nur stelle ich fest, dass von meinem Leben nicht viel übrig geblieben ist. So ist das wohl im Schatten. Es bleibt nichts übrig außer Arbeit und Podcasts. Menschen halte ich auf Abstand, das ist kein Kunststück, denn sie stoßen mich eh ab. Vieleicht bin ich zu misanthropisch, vielleicht übertreibe ich zumindest diesen Punkt ein bisschen. Aber ich nehme meine eigenen Empfindungen endlich ernst. Und die sagen, dass ich mit Menschen nichts zu tun haben will. Sie sind eklig, ich will sie nicht in meiner Nähe haben. Wozu auch? Menschen machen nour Ärger, alles wird kompliziert, sie stellen sich an, wollen mich missverstehen, mir das Leben schwer machen. Ein schweres Leben kann ich auch ohne Menschen haben. Also dosiere ich den Kontakt zu ihnen homöopathisch – die einzige Rolle, die ich der Homöopathie in meinem Leben zubillige.

18 Gedanken zu “Schattig

  1. puzzleblume sagt:

    Nein, du übertreibst nicht oder wir beide sind zumindest zu dem Thema einer Meinung.
    Die freiwillige Selbstbeschränkung, die man sich selbst auferlegt, weil man das Verhalten der gefühlt meisten anderen als unverantwortlich ansieht, lässt einen in den Augen genau dieser anderen schrullig wirken, aber deren zweifelhafte und intolerante Ansichten sind ja schliesslich Teil des Problems, weshalb also ausgerechnet deren Standpunkt mit Toleranz bedenken?
    Wie du, muss ich mit meinem Booster auch noch warten, weil ich „noch zu jung“ bin und erst die anderen, Älteren dran sind. Dabei mahnt mich meine Corona-App schon seit Wochen.
    Immerhin spart man sich durch weniger Gesellschaft auch, einen Haufen Müll anzuhören.

    Gefällt 1 Person

    1. kommunikatz sagt:

      Danke, liebe Schwester im Geiste 🙂 Dein Kommentar tut gut. Die Hausärzt*innen dürfen ja auch Jüngere impfen, wenn sie es für geboten halten. Eigentlich wäre ich auch noch lange nicht dran, wenn es rein nach Stiko-Empfehlung geht, aber so gering, wie die Nachfrage momentan zu sein scheint, nehmen die meisten Ärzt*innen es mit dem Alter nicht so genau und beim örtlichen Impfzentrum kann mensch hier angeblich sogar ohne Termin auflaufen. Du hast also bestimmt irgendwo Chancen.

      Gefällt 1 Person

      1. puzzleblume sagt:

        Ich habe einen Termin Anfang November, beim Hausarzt. Der bekommt, nach seiner Aussage, zu wenig Impfstoff zugeteilt, als dass er anders agieren könnte.
        Es gibt einen Impfbus, der über die Dörfer durch den Landkreis fährt und Impfungen in einem kleinen DRK-Zentrum, wo man hingehen kann, aber nur ohne Termin. Das kann bedeuten, dass man an manchen Tagen sofort drankommt, wenn man Pech hat, aber sehr lange warten muss.
        Ein Impfzentrum mit Terminvergabe wie im vorigen Jahr gibt es hier in grösserem Umkreis nicht mehr. Vermutlich weil die Gegend so dünn besiedelt ist. Bloss überdurchschnittlich „alt“ und mit der derzeit höchsten Sterberate in ganz Deutschland, wie ich kürzlich in der Zeitung las. Macht ja nichts, dann.
        Wo man mit öffentlichen Verkehrsmitteln eh kaum fahren kann, bleibt sich’s doch auch leichter zuhause. Zynismusmodus aus.

        Gefällt 1 Person

      2. kommunikatz sagt:

        Hier wurde das Impfzentrum auch erst vor Kurzem wieder geöffnet, als irgendwie so langsam durchdrang, dass es im Herbst wieder nützlich sein könnte, die Impfquote zu steigern. Irre, wie kurzsichtig und planlos zum Teil noch immer agiert wird. Die Hausärzt*innen scheinen wirklich nicht viel Impfstoff zu haben, meine Hausärztin impft nur einen Tag pro Woche und da sie in den Herbstferien die Praxis eine Zeit lang zu hatte, bin ich halt auch erst Ende Oktober fällig, obwohl ich den Termin schon Ende September vereinbart habe. Naja… Immerhin haben wir Termine…

        Gefällt 1 Person

  2. Und sonst so? sagt:

    Nein übertrieben ist dss nicht. Ich hatte Anfang August trotz 3 Impfungen und aufpassen Corona. Angesteckt bei meinem Mann, der ebenfalls vorsichtig ist und keine Ahnung hat, wo er sich angesteckt hat. Seitdem darf ich Asthmaspray nehmen, alle Bewegungen gehen langsamer und die Konzentration lässt sehr zu wünschen übrig. Tja, da sag noch einer, dass es harmlos ist …🤷🏾‍♀️ du machst es schon richtig, auch wenn man sich selbst vielleicht manchmal übertrieben ängstlich vorkommt. Die Krankheit ist für Menschen mit angegriffenem Immunsystem m. E. nicht zu unterschätzen.

    Gefällt 1 Person

    1. kommunikatz sagt:

      Da wünsche ich Dir erstmal weiterhin gute Besserung! Das dauert bei manchen Menschen echt viele Wochen lang, aber bei den Meisten geht es zum Glück vorüber.
      Mein Immunsystem ist zum Glück ja (noch) nicht angegriffen oder unterdrückt, aber vor solchen Langzeitfolgen, wie du sie beschreibst, habe ich einfach enormen Respekt, denn bei mir würden sie halt zu diversen schon vorhandenen Einschränkungen noch dazukommen. Das bestehende Gesamtpaket reicht mir aber schon voll und ganz, ich brauche da kein Upgrade. Der Witz ist, ich gehöre offiziell zu keiner vulnerablen Gruppe, weil sich meine Vorerkrankungen eben nicht auf Lunge o.ä. beziehen, aber alle Nicht-Mediziner*innen denken immer, ich müsste doch sämtliche Sonderrechte auf schnelle Impfung und alles haben, weil ich doch chronisch krank bin. Nö, ich bin halt nicht im richtigen Bereich chronisch krank und eine Behinderung gilt auch nicht als spezieller Risikofaktor. Ich muss immer mit kompletter Krankengeschichte erklären, warum ich mich eben doch für vulnerabel halte und warum Covid für mich so viel beängstigender ist als offenbar für die meisten anderen Leute. Da gewinnt mensch dann gelegentlich eben schon den Eindruck, sich vielleicht doch übertrieben anzustellen, wenn das so erklärungsbedürftig und schwer nachzuvollziehen ist. Und einzelne im Beitrag erwähnte Menschen fühlen sich dann auch noch persönlich angegriffen, wenn ich sie nicht oder nicht ohne Maske treffen will. Tja…

      Like

  3. kommunikatz sagt:

    Die Doppelimpfung war übrigens unspektakulär. Mir taten halt beide Oberarme weh, weil ich links die Covid- und rechts die Grippeimpfung reinbekommen habe, wobei der Covid-Impfstoff nur ein Drittel der Flüssigkeitsmenge der Grippeimpfung hat (vermutlich dank MRNA, da reicht viel weniger Material) und mehr Flüssigkeit im Gewebe halt auch mehr wehtut. Das war beim Einstich schon so, der Schmerz links kam erst Stunden später und ging auch schneller wieder weg. Ich habe allerdings deutlich gespürt, dass mein Immunsystem gut am werkeln war, denn den ganzen Folgetag war ich total schlapp und appetitlos. Heute ist aber wieder alles gut, außer Stress, aber für den können die Impfungen nichts 🙂

    Like

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..