Experimentelle Etymologie

Robyn war in ihrem Haushalt nicht das einzige etwas spleenige Lebewesen. Auch ihre Besitzerin, Linguistin Lena Hauser, hatte ihre – sagen wir mal so – Besonderheiten. Während Robyn sich dem Aufräumen und der Abfallentsorgung im öffentlichen Raum verschrieben hatte, war Lenas Steckenpferd die Herkunft und Evolution von Wörtern. Diesem Forschungsgebiet begegnete sie, anders als die Mehrheit ihrer Zunft, mit einem eher experimentellen Ansatz. Beobachtung und spontane Mustererkennung bevorzugte sie methodisch deutlich gegenüber der mühsamen Analyse und Empirie. Sie war ein kreativer Kopf und wollte viel lieber mittels Doping und Bewusstseinserweiterung unterstützte Wissenschaft betreiben. Das war bei empirischen Untersuchungen eher weniger möglich, verlor sie da doch mehr den Überblick als dass es sie beflügelt hätte, wenn sie sich mit einer Pfeife voller wohlriechender Pflanzenbestandteile in höhere Sphären versetzte.

Besonders angetan hatten es ihr, wie könnte es auch anders sein, die vielen, sich gänzlich eigenständig weiterentwickelnden Namen ihrer Hündin. Diese Namen führten, wie so viele andere Wörter, offenkundig ein Eigenleben, das zu beobachten und zu analysieren aus wissenschaftlicher Sicht höchst spannend war. Lena hatte im Laufe ihrer nunmehr schon sechs gemeinsamen Jahre mit der pechschwarzen Hündin bemerkt, dass völlig ohne ihr Zutun immer wieder neue Namen auftauchten, aus ihrem Mund kamen und in Robyns samtigen Schlappohren etwas auszulösen schienen. Ob das die von Noam Chomsky entdeckte Ursprache oder Universalgrammatik war? Naja, mit Grammatik hatte es nicht so viel zu tun, aber doch mit etwas Universalem.

Am Anfang der Namensevolution hatte das Wort „Schnuff“ gestanden. Dieses Wort hatte Robyn höchstselbst geprägt, war es doch der von ihr am häufigsten abgesonderte Laut. Sie tätigte diese Lebensäußerung besonders gern, wenn sie ungeduldig war. Dann stand sie da, ließ leicht den Kopf hängen oder neigte ihn seitlich und atmete laut hörbar aus, meist vermischt mit einer Art blasendem Pfeifen oder einem dezenten Grunzlaut. Menschen äußerten Ungeduld oder Missfallen oft ähnlich, vieleicht war auch das universell.

Lena bedachte Robyn also mit diesem selbstgewählten Namen und nannte ihre Hündin fortan „Schnuff“. Aus dem geschlechtsneutral aber doch eher maskulin klingenden Wort wurde unwillkürlich das femininere „Schnüffe“, je nach Lust, Laune und Tagesform aber auch mal „Schnuffel“ oder „Schnaffel“. Die Laute „u“ und „a“ waren ohnehin austauschbar. Der Napf hieß meistens „Nupf“ und mit dem Wort „Mumpf“ verknüpfte Robyn etwas viel Interessanteres als mit „Mampf“. Durch die Einmischung weiterer Silben blühten die Neologismen von „Schnabufffel“, „Schnabaffel“, „Schnabupfel“ und „Schnabapfel“ bis hin zu „Schnabutzel“ und „Schnabatzel“ – nicht zu vergessen „Schnabumpf“ und „Schnabampf“, war „bumpf“ doch Robyns körperlich-gestisch ausgeprägtestes Ausdrucksmittel. Sprang sie nachts auf Lenas Bett, um sich vor dem Prozess des Traumstoffwechsels bequem als kleine Kugel zusammenzurollen, entstand trotz ihrer geringen Körpergröße ein regelrechtes Bettbeben. Sie trappelte kurz im Kreis und ließ sich dann mit einer Wucht fallen, die bereits zu diesem Zeitpunkt ihre gesamte, sich erst morgens manifestierende Körperfülle erahnen ließ.

Irgendwann war – vermutlich aufgrund dieser Tatsache und einer gewissen phonetischen Ähnlichkeit zumindest auf Vokal-ebene – aus „Schnuffel“ „Knubbel“ geworden. Daraus entstanden dann wiederum in Windeseile „Knabubbel“, „Knabuffel“, „Knabutzel“ und Knabatzel“, von „Knabumpfel“ einmal ganz zu schweigen. Die evolutionären Schritte dieser Wörter waren leicht nachzuvollziehen. Ausgehend vom Wortstamm „Schnuff“ und der Vermischung mit „Knubbel“ bildeten sich Zwischen- und Mischformen, Silben und Phoneme fügten sich neu zusammen, die Vokale „a“ und „u“ wechselten sich nach Lust und Laune ab und Lena beobachtete begeistert diese faszinierend eigenständige Sprachentwicklung.

Zudem gab es noch die klangliche Ähnlichkeit zwischen „Schnuffel“ und „Schussel“, einem lokal gefärbten Ausdruck für sowas wie „Dummerchen“. Daraus bildete sich dann das Wort „Schnussel“ oder die Abwandlung „Schnassel“. Und natürlich waren da auch noch die Wortstämme „Muff“ und „Stunk“, die sich aufgrund von Robyns olfaktorischen Eigenheiten und hündischen Fellpflegevorlieben unter Beteiligung von Kuhfladen und totem Fisch eingeschlichen hatten. Im Muffbereich erschöpften sich die Neuschöpfungen aber dann doch in etwas herkömmlicheren Bahnen und beschränkten sich auf „Muffelchen“, „Maffelchen“, „Mupf“, „Plüschmuff/-mupf“ und „Monstermuff/-mupf“. Aus dem Ursprung „Stunk“ bildeten sich „Stunkelbumpf“ und „Dunkelstunk“. Selbstverständlich ließ sich Beides auch zu „Stunkelmuff“ kombinieren. Und letztlich ließen sich all diese Namen für Robyn noch verniedlichen, indem die Silbe „di“ angehängt wurde, so dass Wortungetüme wie „Schnabubbeldi“, „Knabatzeldi“ oder „Stunkelbumpfdi“ entstanden.

Das war gelebter Sprachwandel in einem ungekannten und unverfänglichen Ausmaß. Niemand konnte sich hierüber beschweren, wobei Lena in Bereichen wie geschlechtsneutraler Sprache oder Anglizismen die Abscheu mancher Menschen gegen Wandlungsprozesse der Sprache auch noch nie verstanden hatte. Hier jedenfalls entstand etwas großartiges, Großes! Eine neue Sprache, gemeinsam entwickelt von Mensch und Hund. Was würde sie erst noch entdecken, wenn sie beginnen würde, Robyns Träume oder ihre Äußerungen in anderen Situationen näher zu untersuchen? Vielleicht würden sie eine gemeinsame, lautliche Ebene der Verständigung finden. Dass Robyn zum Verstehen sprachlicher Äußerungen und vereinzelt sogar schon zu ihrer Produktion in der Lage war, wusste Lena. Immerhin hatte Robyn selbst das Urwort „Schnuff“ geprägt und reagierte sichtlich verständig auf andere Wörter wie beispielsweise „lecker“ oder „Wo ist das Quatschi?“. Doch, da lag ein gehöriges Sprachverständnis vor und das war mit Sicherheit ausbaufähig. Hätte Lena gewusst, dass ihre kluge Hündin sogar lesen und schreiben konnte, sie hätte sich zwar nicht gewundert, wäre aber dennoch aus allen Wolken gefallen.

„Kommste mit, Schnabapfel, geh’n wir mal gucken, ob es in der Küche lecker Mumpf gibt!“ oder „Schnabutzel, Nupf such! Na wo ist der denn?“ oder „Nach Hause such – boah, Hause, lecker, Schnubbeldi!“ waren jedenfalls jetzt schon völlig normale Gesprächsfetzen im und vor dem Hause Hauser, wodurch jetzt aber nur ein winziger Bruchteil von Robyns passivem Wortschatz abgebildet ist. Über diesen wird an dieser Stelle weiter berichtet, dann mit den Schwerpunktthemen Fußbekleidung, Mathematik und Straßenverkehr.

 

Dieser Beitrag ist Teil einer Fortsetzungsgeschichte. Alle Teile in chronologisch umgekehrter Reihenfolge findet Ihr hier.

15 Gedanken zu “Experimentelle Etymologie

    1. kommunikatz sagt:

      Danke 🙂 Ich habe mal einen neuen Weg eingeschlagen und mir ein alter Ego zugelegt, das sich nahtlos an das alter Ego von Arzu dranhängt. Genau, wie Robyn nicht absolut identisch mit Arzu ist ist Lena Hauser kein exaktes Abbild von mir, aber Parallelen gibt es in beiden Fällen viele. Und ich bin noch immer total beseelt von der Inspiration zu dieser Idee durch Martina und ihre Figuren aus dem „Und sonst so?“-Blog https://undsonstsoblog.wordpress.com/
      Sorry, hab mich einfach in Professor Cannabidiotis verliebt *schulterzuck*

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      1. kommunikatz sagt:

        Och, die Wörter waren schon vorher da, es brauchte nur etwas Inspiration, um diesen schon lange geplanten Text herauszukitzeln und ihm eine Form zu verpassen 🙂

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    1. kommunikatz sagt:

      Oh ja, das stimmt 🙂 Über die Namen unserer Katzen, als ich Kind war, könnte ich auch ganze Bücher schreiben, zumal sie bei jedem Familienmitglied unterschiedliche Namen hatten, und wir waren immerhin zu Viert 🙂 Aber das Ausdenken komischer Wörter liegt bei mir offenbar eh irgendwie in den Genen.

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  1. Und sonst so? sagt:

    Als mein Möppel zu Möppelchen und dann zu Schnöpöppelchen mutierte, was die Eleganz eines Magyar Vizsla nur rudimentär, wenn nicht sogar konträr beschreibt, liebte mich meine Fellnase noch immer. Wunderbar geschrieben, Lea!😆

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    1. kommunikatz sagt:

      Vielen Dank, liebe Inspiratorin 🙂 Ja, dass sie uns trotz dieser bescheuerten Benamsungen lieben, lässt dann doch fast wieder an ihrer hohen Intelligenz zweifeln 😉 Aber Robyns reales Vorbild wundert sich bei mir eh über gar nichts mehr. Und manchmal habe ich den Eindruck, Hunde lieben uns umso mehr, je bekloppter wir im positiven Sinne sind. Nur mein menschliches Umfeld hält mich inzwischen wohl für relativ gaga. Aber das macht nix sondern ist vermutlich eine realistische Einschätzung der Faktenlage 🙂

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