November

Ich schreibe diese Zeilen am Samstag Nachmittag. Vor meinem Fenster mischen sich die Rufe eines riesigen Kranich-Schwarms mit Rasenmäherbrummen. Beides wirkt im November völlig deplatziert, aber die viel zu hohen Temperaturen (gerade 18°C) verwirren eben Zugvögel und Gartenbesitzer*innen gleichermaßen. Mich verwirrt nichts, es deprimiert nur. Der November ist Zeit des Erinnerns, Gedenkens, Trauerns und Begreifens.

Vor wenigen Tagen, am 9. November, fand das alljährliche Pogromnachtgedenken statt, an dem ich in den letzten Jahren wegen der Pandemie nicht teilgenommen hatte. So voll wie dieses Jahr habe ich den Aachener Synagogenplatz noch nie erlebt, die Zeitung schrieb von 300 Menschen. Es war, wie eigentlich immer, eine sehr gute, würdige und bewegende Veranstaltung. Nicht wie immer funktionierten Technik und Ablauf reibungslos, die vorgetragenen Texte und Beiträge waren beeindruckend, erschreckend und bedrückend, sogar die manchmal auffliegenden und rufenden Stare in den Bäumen schienen Teil der Dramaturgie zu sein. Das Publikum war über eineinhalb Stunden muxmäuschenstill.

Vielleicht waren diese Gedenkveranstaltung und die dort hergestellten Bezüge zu Orten und Gegebenheiten, die mir selbst so nah und vertraut sind, ein Anstoß für das Folgende. In den nächsten Tagen führte ich sowohl mit meinem Vater als auch mit meiner Mutter unglaublich interessante Gespräche über unsere Familiengeschichte. Die Fragen danach hatten mir schon lange unter den Nägeln gebrannt, jedoch hatte es nie gute Gelegenheiten gegeben, sie auszusprechen und die Antworten in der gebotenen Ausführlichkeit und Tiefe anzuhören. Jetzt gab es diese Gelegenheiten und ich ergriff sie dankbar beim Schopf.

Die Geschichte der Vorfahren meines Vaters (Jahrgang 1947) ist aufs Engste und Spannendste mit der deutschen Geschichte verwoben. Erster und Zweiter Weltkrieg, Inflation und Wirtschaftswunder, Höhen und Tiefen der letzten 150 Jahre bilden sich vielfach ab, Personen treten auf, die vor Euthanasie versteckt wurden, konservativste katholische Priester, die zu glühenden Antifaschisten wurden und sich selbst und ihre ganze Familie verstecken mussten, nur weil sie Gottesdienste für Gastarbeiter gehalten hatten, Lehrer, die sich selbst verleugneten, Homosexualität verschleierten und sich den Nazis anbiederten, um ihre Existenz zu retten und die sich oder Andere durch al die Anpassungen und Versteckspiele in den Wahnsinn trieben. Irrungen und Wirrungen quer durch Deutschland bekommen Eckpunkte, Stationen, Gesichter und Kontext.

Die Geschichte meiner Mutter (geboren Aschermittwoch 1949) ist kleinteiliger, familiärer, emotionaler. Hier gab es eine Vielzahl und Vielfalt von Täter*innen, unangenehmen Gestalten, unausgesprochenen Schicksalen. Kinder, die von Straßenbahnen überfahren wurden, Väter, die ihre Frauen im Kindbett alleinließen, um ihre Affären zu ppflegen, andere Frauen, deren Männer der spanischen Grippe erlagenn und die dann sechs Kinder alleine großzogen, und Frauen, die im mittleren Alter plötzlich eine körperliche Behinderung entwickelten und damit ihr gesamtes Umfeld zu terrorisieren begannen – überhaupt viele starke Frauen, im positiven wie im negativen Sinne. Und viele schweigende Männer, die mit ihren Nazi-Uniform-Fotos prahlten, unkritisch, still dominant und regimetreu. Ich verstehe das sehr negative Bild, das meine Mutter von Männern hat, wenn ich ihre Erfahrungswelt bedenke. Und ich verstehe die enorme Ambivalenz, manche vorgefasste Meinung und ihre dennoch aufrichtige Revision, wie ich sie bei meinem Vater zu beobachten glaube.

Ich bin dankbar für diese Gespräche und die Erkenntnisse daraus. Die Geschichten hatte ich fast alle schon das eine oder andere Mal gehört, aber erst die Wiederholung lässt sie einsickern, zu Verstehbarem werden. Die Großmutter meiner Mutter ist ein Schlüssel zum Verständnis meiner MS, denn ihre körperlichen Einschränkungen, trotz derer sie jeden Sonntag in die Kirche geschleift werden wollte, waren vermutlich genau das. Die Stiefgroßmutter meines Vaters und einer seiner Onkel werfen ein Schlaglicht auf den Umgang mit psychischen Erkrankungen und dem in der Familie lange vorherrschenden, sehr seltsamen Frauenbild. Die Puzzleteile fallen ineinander und ergeben einen Sinn, der mir Vieles klar macht und manche meiner frühesten Erinnerungen einzuordnen hilft.

Ein dreijähriges Kind versteht keine Ironie und keine großen Zusammenhänge, aber es nimmt Stimmungen und Atmosphären war. Aus solchen Dingen bestehen die Erinnerungen, die mir letztlich sogar erklären, was mich an Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ gleichzeitig fasziniert und bis zum Anschlag irritiert hat. Es war diese düstere, sonderbare Atmosphäre im Dürener Haus meines Großonkels Peter, den ich nicht (bewusst) gekannt habe. In der Oberstufe im Deutsch-Leistungskurs musste ich die Figur der Leni interpretieren, die sich unbewusst mit der Tante Leni meines Vaters vereinte und zu ganz seltsamen Assoziationsketten führte. Die Echte Leni, die ich als kleines Kind noch bei Besuchen im Altenheim kennenlernte, war die Frau meines Großonkels, der die Ehe mit ihr nur zum Schein und aus Versorgungsgründen eingegangen war, um seine mutmaßliche Homosexualität zu verdecken und den Nazis gegenüber unverdächtig zu sein. Er musste mitmachen, wurde auch zum Täter, ohne als Schön- und Freigeist auch nur ansatzweise dahinterzustehen. Und weil er seine Haut während der Nazidiktatur auf diese Weise rettete, hatte er hinterher keine Chance mehr, in seinem Beruf als Lehrer zu arbeiten, während hohe Richter und Mediziner mit Nazivergangenheit einfach unbehelligt weitermachten.

Wenn Ihr Eltern habt, denen Ihr zuhören und Fragen stellen könnt, tut es um Himmels Willen, solange es geht. Es lohnt sich und jede Familie hat ihre Verstrickungen, birgt ihre Geheimnisse und Geschichten. Ich könnte ganze Bücher damit füllen, auch wenn sicher besser meine Eltern selbst das tun sollten, weil sie noch eine Stufe näher und zum Teil unmittelbar miterlebt haben, worum es in einem solchen Buch gehen würde. Familiengeschichten sind spannender als jedes abstrakte Geschichtsbuch, weil sie das große Ganze und das kleine, Persönliche miteinander verbinden. Sie erklären und dokumentieren so viel über uns selbst, holen eigene Charakterzüge und Eigenschaften aus ihrer verwirrenden und verworrenen Rätselhaftigkeit heraus und schaffen reihenweise Aha-Erlebnisse. Ihr werdet Euch selbst und viele Eurer Regungen und Gedanken besser verstehen.

15 Gedanken zu “November

  1. puzzleblume sagt:

    Beeindruckend dicht, wie du Informationen für diese Auseinandersetzung zuasmmentragen konntest. Das ist gar nicht so selbstverständlich. Meine Eltern und Schwiegereltern waren sämtlich Geburten aus den späten 1920er Jahren und konnten, ebensowenig wie die überhaupt nur eine noch persönlich erreichbare Grossmutter nur wenig über sich bringen zu erzählen. Es war mühsam, ein paar Bröckchen zu ergattern und zu versuchen, sich daraus Vorstellungen zusammenzusetzen von Rollenbildern, Motivationsgründen und moralischen Schieflagen. Und dann muss man auch erst noch selbst alt und reif genug werden, um zumindest Verständnis in der Sache zu entwickeln, wo Verzeihen keine Option ist.

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    1. kommunikatz sagt:

      Da hast Du sehr Recht, ich habe großes Glück, dass meine Eltern sehr reflektierte Menschen sind und meine Fragen an sie zu einer Zeit kommen, in der sie sie beantworten können und wollen. Meine Mutter sagte mir auch, dass sie selber über manche Dinge erschreckend wenig weiß, weil Vieles nie thematisiert wurde und es da eben auch die in vielen Familien übliche Wand des Schweigens in Bezug auf Verstrickungen zur Nazizeit und Vieles drumherum gab. Möglicherweise hat mein Vater es da leichter, weil es in seiner Familie zumindest im direkten Umfeld keine krassen Tätergeschichten gab. Und das glaube ich ihm, auch wenn mir klar ist, dass natürlich die meisten Familien gerne so tun wollen, als hätte es in ihren Reihen keine Täter*inen gegeben. Er ist sich der Ambivalenzen und Konflikte zu bewusst und spricht zu offen darüber, als dass ich dahinter etwas Anderes vermuten könnte.

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  2. Tanja sagt:

    Das klingt sehr interessant und bereichernd, was du schreibst. Meine Familie hat eine Fluchtgeschichte, über die ich leider sehr wenig weiß. Nur, dass meine Oma mütterlicherseits nach dem 2. Weltkrieg aus dem Sudetenland vertrieben wurde. Mein Opa war Tscheche und wurde ebenfalls vertrieben, weil er mit einer Deutschen verheiratet war. Auf der Flucht wurde meine Oma, mit meinem Onkel im Kinderwagen, von meinem Opa getrennt. Als allein reisende Frau mit Kleinkind gehörte sie zur verletztlichsten Gruppe und ich will nicht wissen, was ihr dort alles widerfahren ist. Ich vermute, sie war schwer traumatisiert. Und ihr Trauma hat sie später an ihre Kinder und Enkel weiter gegeben. Das würde viele der schrecklichen Dinge, die in meiner Herkunftsfamilie geschehen sind, erklären sowie das vertuschen und nur das sehen wollen, was in ihr heiles Weltbild passt und auch das extrem ausgeprägte Kontrollbedürfnis. Sie wollte/musste alles kontrollieren, auch mich, womit sie mir die Luft zum Atmen nahm. Ich denke, dass dieses extreme Kontrollbedürfnis seine Ursache im totalen Kontrollverlust liegt, den sie erlebt hat.

    Würde sie noch leben, würde ich gerne genauer nachfragen und mehr erfahren. Mein Wissen über meine Familiengeschichte ist sehr begrenzt.

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    1. kommunikatz sagt:

      Liebe Tanja,
      ja, da sind sicher sehr viele totgeschwiegene Traumata und weitergetragenes Leid und Unrecht im Spiel. Vermutlich ist keine Familie frei von solchen Dingen, aber bei Dir scheint sich Vieles heftig kumuliert zu haben. Aber auch, wenn keine Gespräche mehr möglich sind und mensch nicht nachfragen kann, kann mensch immer reflektieren und überlegen, woher dieses Verhalten oder jene Eigenschaft einer Person wohl gekommen sein mag und welche Erfahrungen hinter diesen Mechanismen stecken mögen. Verstehen und dadurch vielleicht auch Manches vergeben und eine gewisse Nachsicht entwickeln, kann sehr heilsam sein.

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      1. Tanja sagt:

        Ich hege keinen Groll gegen meine Herkunftsfamilie. Sie alle sind Opfer von Opfern, die immer neue Opfer produzieren. Was auch immer sie mir angetan (und sich schöngeredet) haben hatte letztlich nichts mit mir selbst zu tun. Ich bin einfach nur unendlich dankbar dafür, dass ich das alles schon so früh erkannt und mich aus diesem toxischen Familiengeflecht gelöst habe. Warum ich so anders bin, weiß ich nicht. Ich kann nur vermuten, dass es an meiner Hochsensibilität liegt.

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      2. kommunikatz sagt:

        Du hast das alles reflektiert und versucht, es zu verstehen. Vermutlich waren alle Anderen vor Dir so verstrickt darin und nicht im ausreichenden Maß reflexionsfähig oder nicht willens, sich selbst zu hinterfragen. Aber erst, wenn mensch das tut, kann so eine Spirale des immer Weitertragens der Gewalt und des Unrechts durchbrochen werden, glaube ich. Ich habe Dir ja schon oft gesagt, wie beeindruckt ich von Deinem Weg und Deinem Umgang mit Deiner Geschichte und Herkunftsfamilie bin. Ich bin bloß immer bestürzt, wenn ich mir ausmale, wie verloren und ausgeliefert Menschen mit weniger ausgeprägten intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten in so einer Lage sein müssen.

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