Kürzlich las ich diese Kolumne, in der Jennifer Sonntag beschreibt, wie wenig es in der Gesellschaft akzeptiert und erwartet wird, dass ein Mensch mit Behinderung gleichzeitig auch psychische Probleme wie beispielsweise eine Depression haben kann. Der Beitrag konstatiert, von Menschen mit Behinderung werde i.d.R. erwartet, dass sie fröhlich und wohlgemut den Nichtbehinderten als Inspiration (inspiration porn) zur Verfügung stünden, ganz platt und zynisch ausgedrückt.
Auf der einen Seite stimmt das schon. Viele Menschen gehen stillschweigend davon aus, dass zum Leben mit einer Behinderung und/oder chronischen Krankheit so viel intrinsischer Optimismus gehört, dass alle Anderen sich davon locker noch ein paar Scheiben abschneiden können. Ohne positives Denken und eine naive Dauerfröhlichkeit ist in der Vorstellung der Mehrheit ein Leben mit Behinderung wohl gar nicht zu ertragen. daher erwarten viele Menschen, dass Leute wie ich bereitwillig als gut gelaunte Inspirationsquelle auftreten – ein bisschen wie ein Clown im Zirkus – und einen so unerschütterlichen Lebensmut haben, dass sie natürlich a) immer freundlich sein müssen und b) ebenso jederzeit bereit sind, einen kurzen Crashkurs in Zuversicht und Ignoranz alles Negativen zu geben.
Das ist nervig und selbstverständlich entspricht es nicht der Realität, denn ein Mensch mit Behinderung ist im Allgemeinen genauso oft traurig oder schlecht gelaunt, wie ein Mensch ohne Behinderung. Wir sind genauso oft unfreundlich oder Wortkarg, haben dabei aber oft eine größere Strahlkraft, denn wenn einmal ein Mensch mit Behinderung unfreundlich beispielsweise auf ein Hilfsangebot reagiert, sind aus Sicht der Hilfe anbietenden Person schnell alle Menschen mit Behinderung undankbar und schroff, wohingegen das genervte Verhalten eines blonden oder rothaarigen Menschen nicht dazu führt, dass in Folge alle Blonden oder Rothaarigen für per se unsympathisch gehalten werden. Als Behinderte*r muss mensch da schon deutlich auf die eigene Außenwirkung achten, sonst versaut mensch schnell ganze Weltbilder.
Genauso gibt es aber auch den gegenteiligen Effekt. Ich unterhielt mich einmal mit einer Person, die durchaus eigene Erfahrung mit Behinderung und auch mit psychischen Erkrankungen hatte. Als ich dieser Person, die ich bis dahin nicht näher kannte und mit der ich in einem Peercounselling-Kontext zu tun hatte, wo wir Beide als Berater*innen fungierten, kurz meine Situation umriss, erntete ich eine für mich erstaunlich schmerzhafte Reaktion. Ich erzählte, dass ich blind bin und MS habe, außerdem aber auch seit einigen Jahren mit einer Depression kämpfe. Die Reaktion war, dass Letzteres bei einem so schweren Schicksal ja quasi logisch sei. Meine vorsichtige Anmerkung, dass die Depression ursächlich aber gar nichts mit meiner Behinderung und der chronischen Krankheit zu tun habe sondern eigentlich aus ganz anderen Umständen entstanden sei, wurde weitgehend weggewischt,, es ergab für die Person wohl zu viel Sinn, dass mensch depressiv werden muss, wenn so viele Einschränkungen vorliegen.
Nun sind Einschränkungen natürlich im Alltag oft lästig. Das kann dann logischerweise auch schlechte Laune machen, weil es halt frustrierend ist, wenn mensch etwas nicht tun kann. Aber ein zwingender Grund für eine Depression ist es nicht. Es spielt eine Rolle und kann in Einzelfällen sicher auch ausreichen, um eine Depression auszulösen. Aber mir zu unterstellen, ich könne mit all meinen einschränkungen gar kein glücklicher Mensch sein, fand ich heftig. Die (wie gesagt, selbst ebenfalls von einer Behinderung betroffene) Person dachte offenbar, es müsse mmir so schlecht gehen, dass die Depression eine logische Folge meiner Lebensbedingungen, rein Aufgrund von Blindheit und MS sein müsse. Damit sprach sie mir jeden Einfluss darauf und jede Chance ab, gegen die Depression anzugehen und sie zu besiegen. Wenn sie rein durch die unabänderlichen Umstände von Behinderung und Krankheit verursacht war, war sie ja ebenso unabänderlich wie ihre Ursachen. warum also therapieren und kämpfen?
Diese Sichtweise tat weh, sprach sie mir doch immerhin jeglichen Einfluss auf meine eigene psychische Gesundheit ab. Auch, wenn der Kampf mit der Depression schwierig, langwierig und anstrengend ist, möchte ich ihn doch führen und auch die Hoffnung auf Erfolg nicht gänzlich verlieren. Die Aussage der besagten Person legte aber nahe, ich könne mich eigentlich nur damit abfinden und nichts dagegen tun, denn ich könnte ja an meiner Blindheit und der MS-Erkrankung ohnehin nichts ändern.
Liebes diffuses Konstrukt namens Gesellschaft: Menschen mit behinderung sind weder ausschließlich arme Opfer noch Held*innen. Genauso sind sie weder dauerzufriedene, für alles dankbare Inspirationsquellen noch permanent im stillen Kämmerlein heulende Häuflein Elend. Wir sind einfach Menschen, genau wie Ihr, mit guten und schlechten Launen, mit optimistischem oder pessimistischem Denken, mit selbstbewusster und zuversichtlicher oder eben mit unsicherer und gedämpfter Tagesform. Ein Mensch mit einer Behinderung kann völlig unabhängig davon auch andere, auch psychische Erkrankungen haben Das Eine schützt nicht vor dem Anderen, jeder Mensch hat die gleichen Wahrscheinlichkeiten für jeden einzelnen dieser Umstände, denn jeder Mensch mit Behinderung hat neben der Behinderung auch noch einen riesigen Haufen anderer Eigenschaften, Angewonheiten, Risiken und Einflussfaktoren, oder, kurz gesagt, ein Leben.
Teile dieses großen Bündels abgesprochen zu bekommen und damit auf irgendeinen Aspekt der eigenen Person reduziert zu werden, fühlt sich nie gut an. Dabei ist es egal, ob ich auf Negatives oder auf Positives reduziert werde. Es missachtet jeweils all die anderen Teile von mir, die ebenso gesehen und wertgeschätzt werden wollen. Bitte behaltet das im Hinterkopf und entsprechend reduzierende Aussagen für Euch. Auch Ihr wollt ja nicht nur als die Blonde oder der Rothaarige wahrgenommen werden sondern auch die übrigen Facetten Eurer Person zur Geltung bringen.
Ich freue mich gerade riesig über einen in Erfüllung gegangenen Wunsch 🙂 Dieser Beitrag hier wurde im heutigen Newsletter des Inklusionsaktivisten Raul Krauthausen verlinkt. Den Newsletter verfolge ich schon lange und hatte insgeheim immer darauf gehofft, dass einer meiner (zugegeben nicht allzu häufigen) Beiträge aus dem Inklusionskontext es mal in dieses Medium schafft. Nun stolperte ich ganz zufällig beim Lesen des Newsletters über meinen eigenen Text. Das war toll und ich hoffe auf wohlwollende Rezeption und steigende Reichweite 🙂 Vielen Dank an Raul und alles Gute weiterhin!
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