Der Anruf – eine abc.etüde (3 Begriffe in maximal 300 Wörtern)

Helmuth ließ den Blick durch sein Wohnzimmer schweifen. Er konnte sich nicht von all den Erinnerungsstücken seines 73jährigen Lebens trennen und sein Keller war längst voll, deshalb glich seine Wohnung einer Rumpelkammer. Zu jedem Gegenstand, den er besaß, hätte er ein Buch schreiben können. Er zehrte von diesen Geschichten. Seine Tochter hatte ihn schon oft gebeten, sie aufzuschreiben – aufgerafft hatte er sich nie. Und jetzt, wo er nichts zu tun hatte, war er geistig wie gelähmt. Wo war all seine mutvolle Kraft hin? Es war leer in ihm.

Nein, es war nicht leer. Angst füllte ihn gänzlich aus und verdrängte alle anderen Empfindungen. So kannte er sich nicht. Er war immer Derjenige gewesen, der Anderen Halt gegeben hatte. Jetzt übermannte ihn eine stille, sedierende Panik. Angefangen hatte alles mit dem anruf des Gesundheitsamts. Die Dame hatte gesagt, er dürfe zwei Wochen lang seine Wohnung nicht verlassen und müsse in dieser Zeit ein Quarantänetagebuch über seinen Gesundheitszustand führen. Sein Arzt sei an Covid19 erkrankt und könnte ihn angesteckt haben. Zum Zeitpunkt des Anrufs hatte er noch nichts gemerkt. Drei Tage später bekam er Husten, Kopfschmerzen und hatte erhöhte Temperatur. Morgen hatte er einen Termin im kommunalen Abstrichzentrum, in ein paar Tagen würde er wissen, ob er sich das Virus eingefangen hatte.

Und dann? Sein Krebs war Jahre her, die Behandlung längst vergessen, sein Immunsystem war fit. Wenn er krank war, würde sein Körper damit zurechtkommen. Aber er hatte Angst. Der Erstickungstod musste grauenhaft sein. Er atmete tief ein und hielt die Luft an. Spürte er einen Widerstand? Inzwischen beobachtete er sich so genau, dass er jede Regung maßlos überinterpretierte. Deshalb traute er sich selbst nicht mehr. Er griff nach dem Telefon und wählte die Nummer seiner Tochter. Wie schön wäre es, wenn sie jetzt bei ihm sein könnte?

Die Wörter „Rumpelkammer“, „mutvoll“ und „zehren“ für die Wochen 15/16 des Jahres 2020 stiftete Ludwig Zeidler, der selbst leider nicht mehr bloggt. Christianes Schreibeinladung findet Ihr hier.

6 Gedanken zu “Der Anruf – eine abc.etüde (3 Begriffe in maximal 300 Wörtern)

  1. Christiane sagt:

    So ist es, so geschieht es. So unspektakulär, so normal, so erschreckend. Wie gut, dass du bei mir dazugeschrieben hast, wie es ausgegangen ist, denn ich hätte nach einem autobiographischen Hintergrund gefragt und danach, wie es ausgegangen ist …
    Liebe Grüße und danke, hab einen schönen Feiertag
    Christiane aus der stillen Großstadt 🌞🌷☕👍

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    1. kommunikatz sagt:

      Vielen Dank, Ihr Beiden.
      Der Vollständigkeit halber schreibe ich es dann auch hier: Ja, das Vorbild für den Protagonisten lieferte mein Vater. Er war wirklich in Quarantäne, weil sein Hausarzt erkrankt war, sein Testergebnis war dann aber zum Glück negativ. Ich schrieb darüber auch schon in „Bestandsaufnahme im Paralleluniversum“ – wobei die entwarnung auch da nur in den Kommentaren folgte.
      liebe Grüße und Euch alles Gute!
      Lea

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