Am Bahnsteig – eine extraetüde (5 Begriffe in maximal 500 Wörtern)

Triggerwarnung: Suizid – aber keine Sorge, der Text ist fiktiv, auch wenn Manches von mir drinsteckt.

Als Kind hatte sie Nippes gesammelt, kleine Porzellanfiguren und abstrakte Gegenstände wie Pyramiden und Kugeln aus buntem Glas mit irisierenden Oberflächen. Wie mondsüchtig hatte sie in Dekogeschäften vor den Regalen gestanden und staunend einen Staubfänger nach dem anderen durch die Finger gleiten lassen. Sie hatte nie irgendetwas Spezielles gesucht, aber immer etwas gefunden.

Wan und wo war ihr dieser Sinn für Ästhetik, diese Freude an Kleinigkeiten abhandengekommen? Sie war noch nicht wirklich alt, aber sie fühlte sich satt und gleichzeitig unendlich leer. Das Einzige, was sie am Setzkasten ihrer Kindheit heute vermutlich noch immer schätzen würde, war, dass all die kleinen Dinge ordentlich an den Kanten der Holzkästchen ausgerichtet und fein säuberlich, wie im Museum, ausgestellt waren. Furchtbar pedantisch war sie als Kind gewesen. Es schüttelte sie, wenn sie sich alte Tonbänder mit ihrem altklugen Gerede anhörte. So war sie nicht mehr. Nur Ordnung war ihr wichtig geblieben, aber die war nirgends mehr zu finden.

Wenn sie heute den Wetterbericht hörte, war es ganz egal, was vorhergesagt wurde. Jede Wetterlage war ein Zeichen für den Niedergang der Welt. der Sonnenschein, der Regen, der Sturm, alles war Zusammenbruch, Apokalypse, Chaos. Da half keine Giraffen-Perspektive und kein Antidepressivum. Alles bestürzte und bedrückte sie.

Die Welt würde nie wieder heil genug sein, um sich über irgendetwas zu freuen, egal, wie hübsch es glitzern mochte. Nur der alte, rostige Güterzug mit dem riesigen, goldenen Graffiti „We are fucked!“, der jetzt quietschend auf sie zu rollte, ließ ein müdes Lächeln über ihr Gesicht huschen, bevor sie sprang.

Ich habe schon ewig keine abc-Etüde mehr geschrieben, aber jetzt steige ich gleich mit einer Extra-Etüde und einem zugegebenermaßen heftigen Thema wieder ein. Der Mai hat fünf Wochen und in der Fünften gilt es daher, einen Text mit maximal 500 Wörtern zu schreiben, der beide Wortspenden der vorherigen vier Wochen enthält. Eigentlich müssten es nur fünf der sechs Wörter sein, aber ich mache bekanntlich keine Kompromisse und konnte mich schlicht nicht entscheiden, welches ich weglasse. Die Wörter im Mai spendeten Myriade und Puzzleblume. Sie lauteten Giraffe, mondsüchtig, suchen, Wetterbericht, ordentlich und irisieren.

8 Gedanken zu “Am Bahnsteig – eine extraetüde (5 Begriffe in maximal 500 Wörtern)

  1. Christiane sagt:

    Ich kann das verstehen, das Gefühl, dass es nicht mehr besser werden KANN, und finde es ebenfalls schwer auszuhalten. Ich hoffe, du hast dir beim Schreiben nicht allzu sehr das Herz aufgerissen. 🧡
    Vielen Dank, dass du wieder mal dabei bist, ich freue mich immer, wenn ich von dir lese. 👍
    Mittagskaffeegrüße ☁️🌳☕🍪🌼👍

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  2. fundevogelnest sagt:

    Liebe Lea,
    Dein Text ist für mich etwas Besonderes weil ich mich auf eine Weise sehr darin wiederfinde und gleichzeitig so gar nicht.
    Dieses Gefühl das jede Form der reinen Freude abhanden kommt. wenn die Zerstörung der Welt die wir liebten, überhand nimmt, habe auch ich dieses Jahr sehr intensiv.
    Das alles was schön ist, den Hauch von Abschied in sich hat
    .
    Diese Trauer wird immer mehr ein Teil von mir.
    Aber es wächst eine Art Akzeptanz, dass dies mein Schicksal und noch mehr das meiner Kinder is,t in einer Zeit des Schwindens (der Arten) zu leben, egal was ich tu oder lass.
    In mir klingt dabei fort ein altes Lid von Fito Paez, dass ich schon immer liebte“Quién dijo que todo está perdido, yo vengo a oferecer mi corazón- wer sagt das alles verloren ist, ich komme mein Herz anzubieten“.
    Und das will ich weiter zun anstatt es fortzuwerfen.
    Und nun hast du mich auf sehr verschlungen Wegen auf eine Textidee gebracht.
    Liebe Grüße aus dem Fundevogelnest

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    1. kommunikatz sagt:

      Liebe Frau Fundevogel 🙂
      wenn ich diesen wie auch immer gearteten intrinsischen Antrieb trotz der ganzen Scheiße nicht hätte, würde ich ja auch nicht all die Dinge tun, die ich (vielleicht aus Gewohnheit) noch immer tue. Aber irgendwie sind es in mir doch zwei widerstreitende Gefühle und ich muss aufpassen, dass die Resignation nicht Überhand gewinnt. Auf jeden Fall freue ich mich, dass ich Dir eine Schreibidee beschert habe 🙂
      liebe Grüße
      Lea

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