Janina saß am Rand des Spielplatzes und versuchte, sich gleichzeitig auf die Tageszeitungs-App auf ihrem Smartphone und auf ihre spielende Tochter zu konzentrieren. Zum Zeitunglesen kam sie zu Hause nicht, da herrschte der eng getaktete Zeitplan aus Homeoffice, Haushalt und den Bedürfnissen der kleinen Mia. Hier war Mia beschäftigt, Haushalt und Schreibtisch waren weit weg.
Zum Glück waren die Spielplätze wieder offen. In ihrer Zweizimmerwohnung, wo sie mit der Dreijährigen lebte, fiel ihr zunehmend der Himmel auf den Kopf. Manche Eltern sperrten ihre Kinder offenbar trotzdem zu Hause ein – oder sie hatten alle eigene Gärten. Jedenfalls war auf dem Spielplatz nicht viel los.
Aus Richtung Schaukel ertönte plötzlich durchdringendes Kindergebrüll. „Maaama, aaaauuuuaaaaa! Ia von Saukel fallen!“ Janina sprang auf „Oh nein, Maus, ist es schlimm?“ Sie lief zu ihrer im Sand sitzenden Tochter und hockte sich neben sie. „Wo hast du dir wehgetan?“ „Pooopo!“ schrie Mia.Sie musste im hohen Bogen von der Schaukel geflogen und mit dem Hintern auf dem Boden gelandet sein. Die Bremsspur im Sand sprach Bände. „Mia, alles wird gut, du hast dich gar nicht verletzt“, beruhigte Janina sich selbst und das Kind. Was für ein Glück, dass Mia nicht einfach wie ein Stein nach unten gefallen sondern mit guter Beschleunigung nach vorne gesaust und im Sand weitergerutscht war.
„Wieso hast du so wild geschaukelt?“ fragte sie, nachdem sie alle Stellen, die Mia wehtaten, ausgiebig untersucht und bepustet hatte. „Kalle hat Ia angesubst“, erklärte die nun wieder strahlende Mia. Klar, der übermütige, sechsjährige Nachbarsjunge. „Mia, das ist gefährlich. Guck mal, wie fies du dir da wehtun kannst. Bitte lass den Kalle nicht sowas machen, ja?“ „Aber saukeln macht Paaß!“ „Ja, aber nur, bis du runterfällst und dir wehtust.“ Janina wollte Mia das Schaukeln nicht verbieten. Kinder lernten am besten aus eigenen Erfahrungen, aber das hier hätte gewaltig schiefgehen können.
„Kalle, komm bitte mal her!“ rief Janina. Er ignorierte ihre Aufforderung und turnte großspurig an der Leiter der Rutsche herum. Unglaublich, wie überheblich schon kleine Jungs sein konnten, dachte sie. „Kalle!“ Anstatt zu ihr zu kommen, setzte sich Kalle in aller Seelenruhe auf die Rutschbahn, rutschte hinunter und lief in die entgegengesetzte Richtung zum Klettergerüst. Es erinnerte Janina immer an einen Katamaran. Der Unterbau des Piratenschiffs sah aus wie zwei Rümpfe. „Kaaalle!“ versuchte Janina es ein letztes Mal. „So ein Arschloch“ raunte sie. „Mama! Das sagt man nis!“ wurde sie sofort von der kleinen Mia getadelt.
„Kalle is doof, Ia pielt nis mehr mit dem“, konstatierte Mia. „Das ist gut, Maus, sag ich doch.“ Janina würde Kalles Mutter zur Rede stellen, den Vorfall konnte sie nicht totschweigen. Bestimmt würde die blöde Kuh sofort den spieß umdrehen und ihr vorwerfen, dass sie nicht vernünftig auf ihre Mia aufpasste. Als Hausfrau mit gutverdienendem Ehemann hatte die eingebildete Tussi sicher keine Probleme, ihr Kind rund um die Uhr ablenkungsfrei im Auge zu behalten. Janina spürte abstrakte Wut in sich aufsteigen und drehte sich mit Mia auf dem Arm zu den Bänken um.
Die Schreibeinladung zu dieser Extraetüdenwoche findet Ihr hier in Christianes Blog „Irgendwas ist immer„.
Die Wörter im Mai spendeten Olpo von „Olpo run“ und Gerhard von „Kopf und Gestalt„. Sie lauteten „Katamaran“, „großspurig“, „totschweigen“, „Zeitplan“, „schlimm“ und „fallen“. Ich habe auch diesmal wieder alle sechs Wörter verwendet, obwohl nur fünf zur Aufgabe gehören.
Eine sehr realistische Geschichte!
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Liebe Melina,
danke, das habe ich gehofft, als Kinder- und Ahnungslose 😉 Ich schreibe so gerne einfach kleine Alltagsminiaturen. Was für Personen darin dann auftauchen, überrascht mich selbst oft.
liebe Grüße
Lea
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So geht es mir auch 😀 deshalb schreiben wir auch gerne, weil wir dann selber überrascht werden.
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Genau 🙂 Schreiben kann viel spannender sein als Lesen, wenn mensch sich auf den kreativen Ideenfluss einlässt.
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Ja, sehr lebensnah: ein Fall für Watzlawick 🙂 Die Mutter von Kalle hat noch kein Wort gesagt und nix getan und wurde schon zum Feindbild stilisiert. Sehr überzeugend geschrieben ! Solche Episoden passieren uns ja leider ununterbrochen. Das einzige, was ich nicht verstehe ist „abstrakte Wut“ ?
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Liebe Myriade,
hehe, stimmt, Watzlawick hätte seine helle Freude. Die abstrakte Wut kommt wirklich etwas unerklärt daher. Ich meinte, dass Janina über ihre Situation als Alleinerziehende und alle damit zusammenhängenden Implikationen wütend wird, inklusive der vermuteten Beurteilungen durch Kalles Mutter, auf sich allein gestellt zu sein und resultierende Vorwürfe etc.
liebe Grüße
Lea
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Und die „praktische Wut“ wäre dann, wenn sie handgreiflich wird ?
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Jein 🙂 „Abstrakt“ ist ja nicht das Gegenteil von „praktisch“ sondern eher von „konkret“. Die konkrete Wut richtet sich gegen Kalle und seine Mutter, die abstrakte Wut gegen die Gesamtsituation und das System – oder so ähnlich.
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OK, das verstehe ich jetzt
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Hm. Jetzt habe ich spontan mitüberlegt, wie ich die „abstrakte“ Wut verändern würde, und komme zu keinem guten Ergebnis. Aufgefallen ist das „abstrakt“ auch mir beim Lesen. Obwohl ich es verstanden habe, sticht es heraus, daher hätte ich vermutlich versucht, die Wut anders zu umschreiben – oder die Benennung ganz weggelassen.
Übrigens habe ich mich beim Lesen spontan gefragt, ob der Junge vielleicht einen Hörschaden hat und deshalb nicht reagiert …
Vergnügte nachmittägliche Grüße, vielen Dank!
Christiane 🙂
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Liebe Christiane,
Hörschaden – könnte sein, aber ich ging jetzt davon aus, dass Janina das wüsste, falls es der Fall wäre, und meine Absicht war wirklich, da einen kleinen Jungen auf dem besten Weg zur Machowerdung zu beschreiben.
Ich glaube, ich lasse das mit der abstrakten Wut so,, aber falls mir etwas Besseres einfällt, ändere ich es noch. Es sind 491 Wörter, es gäbe also auch noch Luft für mehr Umschreibung.
liebe Grüße
Lea
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Das ist sicherlich gut getroffen.
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Danke!
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