Der Traum vom Fliegen

Robyn machte nicht nur kurze und lange Spaziergänge mit ihrer verrückten Chefin Lena Hauser. Sie hatte auch ihren eigenen Garten. Dort gab es zwar weniger Traummaterial, weil keine anderen Hunde Botschaften absetzten, aber es gab massenhaft Dinge aufzuräumen. Zum Beispiel Kirschen: Die Menschen waren zu schusselig, um die leckeren Kirschen vom großen, alten Kirschbaum zu ernten. Nach einem kleinen, für sie gut erreichbaren Bruchteil hörten sie immer damit auf, so dass die Mehrzahl der Früchte am Baum hängen blieb. Vögel und Insekten bedienten sich natürlich daran, aber viele Kirschen fielen auch auf den Boden und in die Büsche. Zur Kirschenzeit war Robyn daher ständig damit beschäftigt, den Garten nach Fallobst zu durchkämmen, wobei ihre wechselnden Körpergrößen zu interessanten Effekten führten. Wenn sie morgens nach dem Aufstehen, bernhardinergroß, wie sie war, nicht in die Küche sondern gleich in den Garten lief und zwischen den Büschen nach Kirschen suchte, schienen die Rosen und Thujazweige zu tanzen.

Zu späterer Stunde, wenn sie klein war, kam Robyn im Unterholz wesentlich besser und unauffälliger zurecht. Eines Abends entdeckte sie dort, unter Thuja und Rosen, etwas Ungewöhnliches. Zwischen den mittlerweile vertrockneten und dennoch verdammt leckeren Kirschen hockte ein kleiner Vogel. Die junge Amsel war aus dem Nest gefallen und wartete verzweifelt darauf, dass ihre Eltern sie fanden und mit Futter versorgten. Die kleine Robyn beäugte die kleine Amsel neugierig. Was war das denn und was hatte es dort verloren? Amseln kannte sie natürlich, aber eine so kleine Amsel war ihr noch nicht begegnet. Und normalerweise flogen Amseln schließlich auch weg, sobald sie die Hündin bemerkten. Robyns Erfahrung mit ihnen hielt sich also in Grenzen.

Nach ein paar zaghaften Hüpfern blieb die noch nicht flugtüchtige Amsel ängstlich sitzen und ließ sich beschnüffeln. Versuchshalber sperrte sie ihren Schnabel auf, schließlich war sie hungrig und wenn ihr schon keine Gefahr drohte, sprang vielleicht etwas zu Essen dabei heraus. Robyn war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei der Amsel nicht um etwas zu Entsorgendes handelte. Vielmehr dämmerte ihr, dass das kleine Ding vielleicht ein Problem hatte. Den offenen Schnabel interpretierte sie als ständig hungriger Labradormischling sofort richtig und beschloss, dem kleinen Vogel Nahrung zu besorgen.

Sie ging auf die Suche nach Kirschen, die noch nicht vollständig trocken waren. Tatsächlich fand sie eine und knabberte vorsichtig das Fruchtfleisch vom Kern ab. Mit der halb zerkauten Kirsche auf der Zunge lief sie zurück zu ihrem Findelkind, hart gegen den Drang kämpfend, das leckere Futter einfach selbst herunterzuschlucken. Bei der Amsel angekommen präsentierte sie den Kirschmatsch, indem sie sich vor der Amsel auf den Boden legte und die Zunge herausstreckte. Die Amsel verstand und pickte vorsichtig etwas Fruchtfleisch von Robyns Zunge. Erschrocken über die eigene Courage wich sie dann ein Stück zurück und überließ Robyn den Rest der Kirsche. Robyn stand auf und ging wieder ihren Pflichten nach, futterte also Trockenobst. Kurze Zeit später fasste die Amsel sich wieder ein Herz, öffnete erneut den Schnabel und piepste kläglich. Robyn war sofort wieder bei der Sache und teilte ihre Ausbeute wie zuvor mit dem Vogel.

So ging es weiter, jedes Mal, wenn Robyn im Garten auf Kirschensuche war. Manchmal schmuggelte sie sogar etwas von ihrem eigenen Futter im Maul zur kleinen Amsel und ließ sie daran teilhaben. Ihre Besuche bei der Amsel machte sie hauptsächlich abends, wenn sie klein war und sich leichter zwischen den Büschen bewegen konnte. Hin und wieder ging sie aber auch vormittags nach ihrem Schützling schauen und brachte die Rosen zum Tanzen. Lena dachte sich nichts dabei – Robyn war eben kirschensüchtig.

Nach ein paar Tagen wurde die Amsel mutiger und verließ ihr Versteck im Unterholz. Sie hüpfte auf der Erde herum und versuchte, irgendetwas mit ihren Flügeln anzustellen. Vom Boden aus schaffte sie aber nicht viel mer als ein unbeholfenes Flattern. Robyn sah das und ihr neu entdecktes Bedürfnis, der Amsel zu helfen, war sofort wieder da. Es war kurz vor Mittag, Robyn war also noch ziemlich groß. Das stellte sich jetzt als praktisch heraus, denn auch die Amsel wuchs schnell. Wieder legte Robyn sich vor der Amsel auf den Boden, so dass ihre riesige Nase direkt vor dem Vogel lag. In dieser Position verharrte sie eine Weile, bis die Amsel ihre Intention verstand. Vorsichtig, um die empfindliche Hundenase nicht zu verletzen, stieg der Vogel auf Robyns sensibelsten Körperteil und ließ sich etwa in der Mitte zwischen Nase und Augen nieder. Vogel und Hund schauten in die selbe Richtung. Robyn hob dann vorsichtig den Kopf ein wenig an und machte, nachdem die Amsel sich in Position gebracht hatte, eine nach vorne und oben schubsende Bewegung.

Beim ersten Mal klappte es noch nicht so gut. Die Amsel war etwas verdattert über den plötzlichen Stoß und schlug dementsprechend hektisch und unrhythmisch mit den Flügeln. Bei den nächsten Versuchen wurde es aber immer besser. Robyn erhöhte den Schwierigkeitsgrad, indem sie aufstand, nachdem die Amsel ihre Nase bestiegen hatte. Irgendwann hatte die Amsel so viel Kontrolle über ihre Flügel und ein so gutes Gefühl fürs Fliegen, dass sie erste Startversuche vom Boden aus unternahm. Nach ein paar Flatterhüpfern schaffte sie es schon, abzuheben und auf Robyns Rücken zu landen. Von dort aus wiederum konnte sie üben, von einem erhöhten Standort aus loszufliegen. Die Beiden probierten alle möglichen Startpositionen aus. Sie entdeckten, dass es besonders viel Spaß machte, wenn Robyn Anlauf nahm, während die Amsel von ihrem Rücken aus startete. Ihnen fielen alle Möglichen Spiele und akrobatischen Übungen ein, mit denen sie im Zirkus hätten auftreten können.

Als die Amsel sicher fliegen gelernt hatte, hielt sie sich immer seltener am Boden auf. Sie tat, was Amseln tun, und saß lieber auf Bäumen oder Dächern als unter Büschen. Robyn hatte ihr ermöglicht, ein ganz normales Amselleben zu führen, indem sie sie vor dem Verhungern gerettet und ihr das Fliegen beigebracht hatte. Die Amsel kam hin und wieder zu Besuch und baute nach einiger Zeit auch ihr erstes Nest in Robyns Garten. Hier war sie, was sie sehr schätzte,, durch Robyns Anwesenheit auch vor Katzenangriffen geschützt. Obwohl sie sich von Robyn abnabelte wie eine junge Amsel von ihren Eltern, blieben die Beiden einander für den Rest ihrer Leben verbunden.

Die Amsel hatte durch Robyns Hilfe überlebt und eine Menge Spaß gehabt. Robyn ihrerseits hatte entdeckt, wie schön und erfüllend es ist, einem anderen Lebewesen ganz direkt und unmittelbar zu helfen. Sie hatte immer schon viel für ihre Mitwelt getan, indem sie Träume erzeugte und Albträume vernichtete. Aber einem anderen Wesen zu helfen, seinen Traum zu leben oder einfach ein traumhaftes Leben zu haben, war eine neue Erfahrung – viel näher, befriedigender und schöner als all das philosophisch abstrakte Zeug.

PS: Ähnlichkeiten zu lebenden Hunden, Thujas, Rosenbüschen und Kirschbäumen sind auch hier natürlich rein zufällig 🙂

Dieser Beitrag ist Teil einer Fortsetzungsgeschichte. Alle Teile in chronologisch umgekehrter Reihenfolge findet Ihr hier.

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8 Gedanken zu “Der Traum vom Fliegen

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