Was wir von Gemüse lernen können

Bei uns um die Ecke gibt es einen netten, kleinen Biosupermarkt. Es ist keine Filiale einer Kette sondern ein einzelner Laden, der sich innerhalb der letzten schätzungsweise 20 Jahre vom winzigen Biolädchen zum Supermarkt mit sehr passablem Sortiment gemausert hat. Neben den guten Produkten sind auch die dort arbeitenden Menschen und die anderen Kund*innen ein echter Anreiz, dort hinzugehen – der Laden ist eine Art sozialer Treffpunkt und jeder Einkauf ist mit netten Begegnungen und Gesprächen verbunden.

 

Meistens kaufen wir dort nur Milch und Wein, ab und zu Brot oder ein Stück der weltbesten Donauwelle von der Bäckereitheke, manchmal aber auch Gemüse. Vor allem Möhren werden hier von allen zwei- und vierbeinigen Haushaltsmitgliedern sehr geschätzt. Besonders gut sind Möhren, wenn sie absurde Formen haben, wie mensch sie leider nur im Bioladen findet. Normale Supermarktmöhren – selbst wenn „Bio“ dransteht – sind gerade und ebenmäßig. Die Möhren im Biosupermarkt sind kurvig, haben Verzweigungen und interessante Knubbel. Sie laden förmlich zu Spekulationen ein, was ihnen beim Wachsen im Weg gewesen sein könnte, dass sie solche fast schon künstlerisch anmutenden Formen entwickeln, um sich dennoch auszudehnen und an Nährstoffe zu kommen.

 

Schräge und verwachsene Möhren sind viel spannender als standardisierte. Meistens schmecken sie nicht wesentlich anders als diese, aber ihre Geschichten und unsere Assoziationen sind viel interessanter. Ähnlich ist es mit allem, das irgendwie aus dem Rahmen fällt. Auch Menschen, die nicht der Norm entsprechen, finde ich deutlich reizvoller als geradlinige Normalbürger*innen mit all ihren klischeehaften, unkreativen Lebensentwürfen, -inhalten und Interessen. Es mag bequem und einfach sein, zur Mehrheit zu gehören und mit dem Strom zu schwimmen, aber zur interessanten Person wird auf diese Weise niemand. Das sind eher Diejenigen mit den unerwarteten Brüchen im Lebenslauf, mit den unklaren Zielen, den offenen Erwartungen und den nicht vorhandenen Plänen. Es sind die Menschen mit den ungewöhnlichen Eigenschaften, den starken Überzeugungen und den intrinsisch intensiven Motivationen. Und es sind die mit den traumatischen Erlebnissen, den Hintergründen voller Enttäuschungen, Flucht, Verletzung und Verlust, die durch diese Erfahrungen stark und letztlich vom Guten überzeugt werden, weil sie das Schlechte zur Genüge kennen.

 

Ich liebe Außenseiter*innen, die ihren eigenen Weg gehen und ihre Überzeugungen aus eigenen Erfahrungen und Gedanken ableiten. Solche Menschen dackeln nicht einfach der Norm hinterher, weil mensch das halt so macht, sondern hinterfragen, zweifeln und lassen ihre Unzufriedenheiten zu. Wer es dann noch schafft, aus Unzufriedenheiten den Willen und die Motivation zur Veränderung zu ziehen, führt das erfüllteste Leben, das ich mir vorstellen kann. Normalos werden nicht zu Weltverbesser*innen, denn sie finden sich einfach mit allem ab. Sie gehören zur Mehrheit, entsprechen den Erwartungen und haben keinen Grund, dieses vermeintliche Erfolgsrezept in Frage zu stellen. Veränderungen gehen immer von Menschen aus, die in irgendeiner Weise nicht dazugehören oder vielleicht auch einfach nicht dazugehören wollen. Deshalb trifft mensch in Protestbewegungen aller Art meinem Eindruck nach so viele ungewöhnliche Menschen an – sie sammeln sich dort, weil sie eh aus dem Rahmen fallen und weil sie genau wissen, was sie (nicht) wollen. Genau wie die schrägen Möhren suchen sie sich ihren Weg zu den Nährstoffen und den idealen Zuständen. Sie streben dort hin, wo es gut ist und wo sie ihr Lebenselixier finden. Und sie bereichern ihre Umgebung dabei gleichzeitig mit Leben, vielfältiger Gemeinschaft und Wachstum. Das funktioniert nur abseits der Norm, denn Normen schränken die Entwicklungsfreiheit ein, zwingen zur Anpassung oder sortieren Individuen aus, die ihnen nicht entsprechen. Das können verwachsene Möhren sein, die im konventionellen Supermarkt gar nicht erst angeboten sondern früh in der Produktionskette entsorgt werden. Genauso können es Menschen sein, die aufgrund ihrer Herkunft, Behinderung, Geschlechtsidentität, Linkshändigkeit oder welcher Besonderheit auch immer als Außenseiter*innen gebrandmarkt sind und es nicht schaffen, aus ihrer Not eine Tugend zu machen.

 

Die Norm ist eigentlich die Normalität, also die Mehrheit. Wer normal ist, ist so, wie die Meisten sind. Die Mehrheit bestimmt, was normal ist. Das klingt nach Demokratie, Mehrheitsentscheidungen, maximaler Zustimmung und einem utilitaristischen Modell, in dem es der größtmöglichen Zahl von Menschen gut geht. Gesellschaftliche Normen werden aber nicht verhandelt und es wird nicht nach einem bewussten, informierten Entscheidungsprozess darüber abgestimmt, was die Menschen für richtig halten und wie sie ihr Zusammenleben gestalten wollen. Es läuft viel unterschwelliger ab, denn das schlichte Sein der Mehrheit bestimmt die Norm, ohne dass diese Mehrheit diesen Umstand jemals reflektiert. Es ist die normative Kraft des Faktischen, die dafür sorgt, dass die Einen als „normal“ gelten und die Anderen nicht, nur weil sie eben die Minderheit sind. Solche Minderheiten können nicht einfach zu Mehrheiten werden, denn sie können die Anderen nicht dazu bekehren oder davon überzeugen, auf Linkshänder*in umzuschulen, sich einen Migrationshintergrund, eine Behinderung oder eine abweichende Geschlechtsidentität zuzulegen. Eher stehen sie unter Druck, sich der Mehrheit so weit wie möglich anzupassen, was sie aber genauso wenig können – vor allem nicht, wenn sie sich selbst treu bleiben wollen.

 

Zu Demokratie gehört Transparenz, Fairness und Toleranz. Die unreflektierte Erwartungshaltung der „normalen“ Mehrheit, die abweichenden Minderheiten müssten sich ihr um jeden Preis anpassen, ist aber weder fair noch tolerant. Niemand hat das Recht, die eigenen Maßstäbe für allgemeingültig zu halten und von Anderen Anpassung zu verlangen. Wenn der Anpassungsdruck zu groß wird und unangepasste Individuen sich Diskriminierung und Repressionen ausgesetzt sehen, wird es gefährlich. Gesellschaftliche Zwangsnormierung führt dann schnell zur Ablehnung und Ausgrenzung, wenn nicht sogar zur Verfolgung von Minderheiten – wie in der konventionellen Gemüseproduktion,wo die krummen Gurken und die verzweigten Möhren aussortiert und weggeworfen werden, nur weil sie das einheitliche Idealbild stören. Wenn wir so mit Menschen umgehen, die sich nicht anpassen können oder wollen, führt das direkt in den Faschismus.

 

Wir können von Gemüse also Einiges lernen. Vielfalt ist bereichernd und schön, Abweichungen  sind spannend und bringen neue Ideen, Impulse und Entwicklungschancen ein, schräge Möhren sind antifaschistisch und ein wunderbares Symbol für Inklusion. Normalität ist nicht per se böse, aber der Druck, sich ihr anzupassen, blockiert und verhindert Kreativität, Offenheit und Toleranz im Zusammenleben. Vor allem verhindert er Bestrebungen und Entwicklungen hin zu einer besseren und gerechteren Welt, denn solange ein Großteil der Minderheiten im Hamsterrad der Anpassungsversuche sitzt,, gibt es viel zu wenige Menschen, die wirklich etwas bewegen. Würden Minderheiten mehr darin bestärkt, dass sie in ihrer Andersartigkeit anerkannt und respektiert sind, könnten viel mehr dieser Menschen ihre Ideen und Energien zum Wohl der gesamten Gesellschaft einsetzen – genau wie es meiner Meinung nach zu einem viel wertschätzenderen Umgang mit Nahrungsmitteln führen würde, wenn Gurken und Möhren nicht aussähen, als kämen sie direkt vom Fließband einer Lebensmittelfabrik. Unterschiede zuzulassen und durch sie bereichert und inspiriert zu werden, bringt uns zurück zu unserer Natur, zu gegenseitiger Wertschätzung und zu Chancen auf ein gutes Leben.

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