Respekt und Vorurteile

Eigentlich bin ich eine große Verfechterin lockerer Umgangsformen. Ich habe sehr lange Studiert und mich auch ansonsten immer schon in Kreisen bewegt, in denen das „Du“ als Anrede wesentlich üblicher war als das „Sie“. In den meisten Kontexten werde ich lieber geduzt als gesiezt und duze sehr gerne zurück, zumindest, wenn ich die Distanz zwischen mir und meinem Gegenüber nicht künstlich vergrößern will.

 

Dennoch gibt es Situationen, in denen ich mich richtig ärgere, wenn jemand mich ungefragt duzt. Manchmal – vor allem bei oberflächlichen oder rein geschäftlichen Kontakten – will ich genau die Distanz wahren, die das „Sie“ als Anrede impliziert. Besonders widerwillig reagiere ich, wenn mich jemand duzt, den ich meinerseits sieze. Selbst da gibt es zwar Abstufungen. Einem Arzt, bei dem ich seit frühem Jugendalter in Behandlung bin oder einer ehemaligen Lehrerin, die mich schon als Kind kannte, räume ich ein gewisses Gewohnheitsrecht ein. Da wäre mir zwar an sich zumindest die Variante Vorname und Siezen lieber, aber es ist ok, wenn die Leute das nicht hinbekommen. Die Anredeform „Sie“ und Vorname ist zu unüblich und so viel mache ich mir daraus in diesen Fällen nicht.

 

Woraus ich mir hingegen recht viel mache, ist das Geduzt werden durch wildfremde Menschen, egal ob auf der Straße, im Bus oder bei Veranstaltungen.  Vor allem stört es mich, wenn die Menschen mich weiterhin duzen, obwohl ich zurück sieze. Ich frage mich schon lange, was solche Leute denken. Es sind nicht die lockeren „ich duze Jede*n“-Typen. Eher sind es konservativ wirkende, meist ältere Menschen. Von diesen Menschen geduzt zu werden, wirkt nicht locker sondern abwertend. Es scheint mir immer, als würden sie mich nicht für voll nehmen und nicht als gleichwertige Gesprächspartnerin betrachten.

 

Wie kommt dieses Phänomen zu Stande? Ok, ich sehe mit meinen 35 Jahren bei meinen 1,60m Körpergröße und meiner nicht gerade kurvigen Figur trotz diverser grauer Haare offenbar sehr jung aus. Für minderjährig kann mich aber niemand halten, der funktionierende Augen und Ohren hat. Seit ich 19 bin, werde ich bis heute immer wieder auf 25 geschätzt, ich scheine also nicht nennenswert zu altern, aber auch eine 25Jährige würde mensch normalerweise bei einem oberflächlichen Kontakt siezen. An meinem Äußeren kann es also nicht liegen, einen Grund muss es aber haben, da es mir wirklich oft passiert.

 

Ich habe eine ganz andere Vermutung, und die bestätigt eindrücklich eine der Grundregeln für Leichte Sprache: Ich bin behindert. Solange ich mich nicht explizit kennzeichne, sieht mensch es mir nicht unmittelbar an. Aber wenn ich in der Öffentlichkeit bin und mir solche unfreiwilligen duz-Situationen passieren, bin ich immer als blind erkennbar.

Erschreckend viele Menschen gehen unterschwellig und unhinterfragt immernoch davon aus, dass Menschen mit egal welcher Art von Behinderung automatisch auch geistig nicht ganz auf der Höhe sind. Das ist ein Vorurteil.

Menschen mit Behinderung werden sehr oft wie Kinder behandelt, weil sie für unselbstständig, unmündig und, platt gesagt, für ein bisschen doof gehalten werden. Dabei sind nichtmal Menschen mit einer geistigen Behinderung unmündig, unselbstständig oder doof. Auch sie sind erwachsen, entscheidungsfähig und haben Bedürfnisse. Sie haben ein Recht darauf, ernst genommen und respektvoll behandelt zu werden. Deshalb besteht in der Leichten Sprache ein regelrechtes Duzverbot. Es gibt kaum etwas Diskriminierenderes, als einen erwachsenen Menschen wie ein Kind zu behandeln. Genau das ist es aber, was das ungefragte Duzen ausdrückt und was sehr schnell und ungefiltert bei der unfreiwillig geduzten Person ankommt. Und natürlich ist das Duzen nicht das Einzige. Oft verstärkt sich der Eindruck des nicht-für-voll-genommen-Werdens durch Tonfall und Körpersprache. Mit einem Kind gehen die meisten Menschen einfach anders um als mit einer*m Erwachsenen. Kein Mensch mit Lernschwierigkeiten oder geistiger Behinderung, auf den ich in meiner Arbeit und meinem sonstigen Leben bisher getroffen bin, war so abständig, dass er eine solche Abwertung nicht bemerken und dass sie ihn nicht verletzen würde.

 

Wenn mich jemand gegen meinen Willen duzt, habe ich Mittel, um dagegen vorzugehen. Je nach Situation und Kontext lasse ich z.B. Kommentare über meine Arbeit, meinen Hochschulabschluss, meine vor Jahren gescheiterte Ehe oder irgendetwas Politisches fallen, was den Menschen klar machen soll, dass sie mit einer gestandenen Frau sprechen. Manchmal kann ich dann förmlich spüren, wie es im Kopf meines jeweiligen Gegenübers rattert und wie eine gewisse Irritation sich Raum greift. Solche Strategien und Möglichkeiten hat aber nicht jeder Mensch mit einer Behinderung.

 

Ich möchte hier deshalb ganz nachdrücklich appellieren: Liebe von mir zwangsgeduzte Menschen, seid aufmerksam und achtet darauf, wie Ihr Andere behandelt. Siezt lieber einmal zu oft und wartet, bis Euer Gegenüber Euch signalisiert, dass das „Du“ ok ist. Das gilt vor allem, wenn Ihr mit einer Person sprecht, die aus irgendeinem Grund besonders diskriminierungsgefährdet ist. Das sind Menschen mit Behinderungen, aber z.B. oft auch Migrant*innen mit schlechten Deutschkenntnissen oder Menschen, die anderweitig aus dem Rahmen fallen. Geht wertschätzend miteinander um und wahrt Distanz, überschreitet niemals ungefragt Grenzen, wenn Ihr es vermeiden könnt. Und selbst wenn Ihr mit Kindern sprecht, nehmt sie ernst und behandelt sie nicht wie Dummchen. Ihr braucht sie nicht zu siezen, aber auch sie sind schon denkende, fühlende und handelnde Individuen, die Respekt verdienen.

 

PS: Das Gewohnheitsrecht, mich zu duzen, nur weil jemand mich schon als Kind kannte, gilt übrigens nicht für Jede*n. Als Studierendenvertreterin traf ich mit Anfang 20 auf unseren damaligen Oberbürgermeister, mit dessen jüngster Tochter ich zur Grundschule gegangen bin. Als Kind war ich also ein paar Mal bei ihm zu Hause auf Kindergeburtstagen. Als ich nun mit zwei weiteren Kommiliton*innen in der Tür seines Besprechungszimmers stand, begrüßte er mich allen Ernstes mit „Hallo, ich darf doch bestimmt noch Lea zu dir sagen“. Meine Antwort war ein recht kühles „Nein“.

4 Gedanken zu “Respekt und Vorurteile

  1. kommunikatz sagt:

    Es ist echt skurril. Selbst jetzt, mit fast 38, habe ich gestern wieder erlebt, dass jemand, der mich nicht kannte, mich auf Mitte 20 schätzte. Egal, wie grau ich werde, mein Gesicht scheint die Leute gnadenlos zu verwirren.

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